Tony Charman: "Die Kollegen im Bereich Autismus sind in der Regel sehr kooperativ."
„Der Autismusforschung fehlt es nicht an Fördermitteln und die Ergebnisse sind vielversprechend. Dennoch bleibt viel zu tun. Wir entdecken gerade erst, wie viel an den transitionalen Behandlungspfaden der Störung verändert werden kann.”
Professor Tony Charman (King’s College London) ist an einigen der größten internationalen Forschungsprogramme über die Entwicklung junger Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung beteiligt. Charman untersucht die Transition von gefährdeten Kindern zur sozial-kognitiven Entwicklung von Patienten im Kindes- und Jugendlichenalter sowie die methodologische Umsetzung der Ergebnisse in der klinischen Praxis.
„In der Forschung dreht sich viel um das Auftreten von Autismus“, erklärt Charman. „Wir untersuchen, wie unterschiedliche Behandlungspfade in den ersten Lebensjahren bei manchen Kindern zur Herausbildung der Störung führen und bei anderen nicht. Dann gibt es da noch die Fälle dazwischen, und zwar die, bei denen „Zweifel“ bestehen. Diese Gruppe interessiert uns besonders. An diesen Entwicklungswegen versuchen wir zu verstehen, warum sich gleichermaßen gefährdete Kinder unterschiedlich entwickeln. Im Rahmen der Nachverfolgung analysieren wir nun die Daten dieser Kinder bis zu deren siebten Lebensjahr und erhoffen uns daraus Erkenntnisse über die Transitionen in der Entwicklung: Welches Kind erhält eine Diagnose und wie verlässlich ist sie.”
Behandlungspfade verändern
– Könnte die Anpassung der Behandlung an diese Entwicklungswege die Ergebnisse verbessern?
„Genau das versuchen wir in unseren Interventionsstudien herauszufinden: Unser Ziel ist es, Entwicklungswege zu unterscheiden und die Kinder von Wegen, die evtl. zur Herausbildung von Autismus führen, auf solche mit einem typischeren Ergebnis umzuleiten. Noch steht in den Sternen, ob wir eines Tages eine effektive Antwort für jeden Behandlungspfad finden werden. Aber kürzliche Studien haben gezeigt, dass eine Behandlung in frühen Jahren zu den besten Ergebnissen führt. Diese Studien erfordern sehr viel Zeit und zeigen erst seit Kurzem klinischen Nutzen für die Transition – es gibt also noch viel zu tun. Tatsächlich entdecken wir gerade erst, wie viel an den transitionalen Behandlungspfaden der Störung verändert werden kann. Uns liegen zahlreiche interessante Fallstudien vor – wie die von Sally Rogers in Kalifornien – und wir führen erst jetzt randomisiert kontrollierte Studien durch. Derzeit arbeiten wir an einer sehr vielversprechenden Studie, von der ich hoffentlich auf dem ESCAP-Kongress berichten kann. Es geht um den Versuch, die klinische Wirkung auf die Reduzierung herausgebildeter Fälle von Autismus einzuschätzen. Unser Wissen steht also erst ganz am Anfang.”
– Wie früh lassen sich heute Anzeichen von Autismus erkennen?
„In den USA und Europa werden ganz neue experimentelle Untersuchungen mit Kindern unter 12 Monaten durchgeführt. Wir überprüfen derzeit einige Artikel über Kinder mit Anzeichen ab dem Alter von 4 Monaten und ersten Anzeichen von Autismus im Alter von 12 bis 14 Monaten. Hier besteht jedoch eine Kontroverse: Die Meinungen über die Beurteilung dieser frühen Anzeichen und deren Vorhersagewert gehen weiterhin auseinander. Doch in Versuchen mit neuen Technologien wie der Messung der Gehirnaktivität oder Eye-Tracking sind diese Anzeichen klar erkennbar. Und es besteht zunehmend Konsens über mögliche, bereits im frühen Kindesalter erkennbare Anzeichen. Im Rahmen der Europäischen Studie zu Autismus-Interventionen EU-AIMS verfügen wir über 7 Standorte in Europa, an denen wir gefährdete Kleinkinder anhand gemeinsamer Methodologien beobachten. Noch vor 10 Jahren hätte man Ihnen ins Gesicht gelacht, wenn Sie über die frühzeitige Erkennung erster Anzeichen von Autismus im Alter von 12 Monaten und Interventionen bei Kleinkindern gesprochen hätten.”
Fördermittel
– Nicht wenige internationale Initiativen legen den Schwerpunkt heute auf Autismusforschung. Wie erklären Sie sich dieses besondere Interesse?
„Autismus ist seit geraumer Zeit recht bekannt und erfreut sich einer umfassenden internationalen Zusammenarbeit. Wahrscheinlich werden hierfür unverhältnismäßig hohe Summen an Fördermitteln aufgebracht. Dies lässt sich teilweise dadurch erklären, dass es sich um eine potenziell bedeutende klinische Wissenschaft handelt, sprich Geldgeber investieren in diese Art der Forschung, da sie Aussicht auf Erfolg verspricht.”
– Zwischen Forschungsgruppen und verschiedenen Störungen herrscht also eine Art Wettbewerb?
„Ganz bestimmt, denn es geht ja um dieselben Fördermittel. Der Wettbewerb muss da sein: Öffentliche Gelder müssen möglichst gut ausgegeben werden. Manchmal stammen die Fördermittel aber auch aus Zusammenarbeitsinitiativen. Die Kollegen im Bereich Autismus sind in der Regel sehr offen und kooperativ. Zwischen internationalen Projekten bestehen häufig Verbindungen und wir müssen über die Ergebnisse anderer Forscher informiert sein. Im Moment arbeiten wir z. B. hart an der EU-AIMS, es bestehen neue Initiativen von Professor Jan Buitelaar in den Niederlanden, wie die Förderung durch das neue Rahmenprogramm für Forschung und Innovation Horizont 2020 für das Projekt Brainview, wir sind Mitglied eines neuen Schulungsnetzwerks usw. Diese Initiativen kommen allen zugute und es passiert viel über Netzwerke. Auf diese Weise helfen wir uns gegenseitig.”
Elterninitiativen
– Autismusforschung ist recht privilegiert: Die Störung ist weit bekannt und es fehlt nicht an Fördermitteln.
„In der Tat herrscht großes Interesse, sowohl seitens der Fürsprecher als auch in puncto Fördermittel. So besteht z. B. in den Bereichen Autismus und ADHD ein bemerkenswerter Kontrast hinsichtlich der aktiven Beteiligung von Elternvereinen. In Europa wie in den USA bestehen zahlreiche Elternselbsthilfegruppen – wie z. B. Autism Speaks – die nicht nur viel Geld sammeln, sondern auch politisch einen recht großen Einfluss erlangt haben. Initiativen wie Autism Europe und ASDEU mit Joaquín Fuentes, die sich beim EU-Parlament für die Unterzeichnung der Written Declaration on Autism eingesetzt haben, gibt es für andere Störungen nicht.”
– Die Autismusforschung macht große Fortschritte. Sind sich Mediziner darüber bewusst, dass Autismus heute viel früher behandelt werden kann, als man noch vor ein paar Jahren annahm? Wie können sich Ärzte auf dem Laufenden halten?
„Hierbei handelt es sich um einen weit verbreiteten Mechanismus. Zunächst besteht die Herausforderung der Wissensbildung und -konsolidierung: Wie zuverlässig sind die frühen Anzeichen von Autismus in den ersten Lebensjahren? Und wie frühzeitig lassen sich diese Anzeichen bei manchen Kindern erkennen? Das ist der wissenschaftliche Teil. Dann kommt die Wissensverbreitung und Sensibilisierung. Hierzu sind häufig spezifische Initiativen erforderlich, wie die Aktionen von Joaquín Fuentes: Autism Europe-Meetings und Gespräche mit dem EU-Parlament und Beamten des öffentlichen Diensts, die Einfluss auf die psychiatrische Versorgung haben. Es dauert seine Zeit, einflussreiche Psychiater und Psychologen zu erreichen und das Wissen dann an Ärzte weiterzugeben.”
Tony Charman ist Professor für klinische Kinderpsychologie am King’s College London und ist in mehrere europäische Studien involviert. Er ist Mitglied der Europäischen Studie zu Autismus-Interventionen (EU-AIMS), einer multizentrischen Studie zur Entwicklung neuer Medikamente, und Leiter der COST (European Cooperation in Science and Technology)-Aktion „Enhancing the Scientific Study of Early Autism“ (ESSEA). Im Vereinigten Königreich ist Charman Laborleiter des Autism and Development Teams (ADT) am Institute of Psychiatry des King’s College London und leitet die britische Autismusstudie zu Geschwisterkindern im Kleinkindalter (BASIS). Darüber hinaus war er Vorsitzender der Beratergruppe der britischen Parlamentariergruppe zu Autismus (APPGA) und hat an der PACT-Studie teilgenommen, die zu mehr Einsicht über die Auswirkungen einer frühzeitigen Intervention auf die spätere Kommunikation des Kindes führte. Charman war an der Ausarbeitung der NICE-Richtlinien über Autismus bei Jugendlichen unter 19 Jahren beteiligt (CG128 Recognition, Referral and Diagnosis (Erkennung, Überweisung und Diagnose) und CG170 Support & Management (Unterstützung und Management).
Professor Charman gab seine Absicht bekannt, auf dem ESCAP-Kongress 2017 in Genf wesentliche neue Erkenntnisse aus Studien über die frühzeitige Erkennung von Autismus und methodologische Verbesserungen für die Behandlung (derzeit in Überprüfung) offenzulegen.
Seine kürzlichen Studien umfassen:
Sex differences in the association between infant markers and later autistic traits (Journal of Molecular Autism, March 2016).
Use of early intervention for young children with autism spectrum disorder across Europe (Autism Journal, February 2016).
Emotional and behavioural problems in young children with autism spectrum disorder (Journal of Developmental Medicine and Child Neurology, February 2016).
How can clinicians detect and treat autism early? Methodological trends of technology use in research (Acta Paediatrica, International Journal of Paediatrics, December 2015).