Patrick McGorry: „Die Mehrheit der jungen Menschen bekommt überhaupt keine Hilfe.“

siehe unten für die Videointerviews von Patrick McGorry: access to mental health care und transition to adulthood and effective mental health care

Das „folgenschwere zweierlei Maß“ für den Zugang zur psychiatrischen Gesundheitsfürsorge

Patrick McGorry: „Frühzeitige Behandlung beeinflusst die Entwicklung des Resultats“

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„Die Erfahrung aus der Adoleszenz prognostiziert nachdrücklich, wie es jungen Menschen im Alter von 30 Jahren gehen wird. Wer während des Übergangs von der Jugend zum Erwachsenenalter eine Reihe von Problemen mit der psychischen Gesundheit hatte, hat weniger Freunde, eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Ausbildung nicht abgeschlossen wurde, verdient weniger Geld – wenn man überhaupt einen Arbeitsplatz bekommen hat – , kann von finanzieller Förderung abhängig oder sogar obdachlos sein. Und man könnte tot sein – durch Selbstmord.“

Professor Patrick McGorry (Melbourne, Australien), Hauptredner beim ESCAP-Kongress 2017, ist ein angesehener Forscher im Bereich Frühintervention bei Psychosen und anderen Aspekten der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Heute zeigt er sich als Aktivist gegen die weltweite Diskriminierung von Menschen mit psychischen Krankheiten und tritt als Fürsprecher dafür auf, Zwölf- bis 25-jährigen einfachen Zugang zur psychischen Gesundheitsvorsorge zu ermöglichen.

McGorry: „Ja, ich bin Aktivist geworden. Ich bin ja schon eine ganze Weile dabei, versuche ein guter Kliniker zu sein und Forschung zu betreiben. Wenn ich mir heute all die Nachweise ansehe, die wir momentan zur Verfügung haben, ist es höchste Zeit, dass wir etwas damit tun und sie praktisch umsetzen.“

„Stellen Sie sich vor, Menschen mit Krebs oder einem Herzleiden würde gesagt: „Das ist nicht ernst genug, kommen Sie später wieder, wenn es schlimmer ist.“ Bei psychischen und physischen Erkrankungen wird folgenschwer mit zweierlei Maß gemessen.“

Unterlassung einer Behandlung
“Es gibt so viele junge Leute da draußen, die keine Hilfe bekommen. Die Unterlassung einer Behandlung bei diesen jungen Menschen hat reale Konsequenzen. Kritiker reden gerne von einer Über-Diagnostik, stattdessen aber sind wir - während manche jungen Menschen eine falsche Diagnose und Behandlung bekommen - weit entfernt von einer Über-Behandlung. Das Gegenteil ist wahr: Wir werden mit dem gewaltigen Problem der Unter-Behandlung oder gar keiner Behandlung konfrontiert.“

Schrittweise Behandlung
„Was wir einrichten sollten, ist ein schrittweises Fürsorgesystem, dass es Menschen ermöglicht, ganz grundlegende Fürsorge zuerst zu bekommen – einfach Erziehung und Unterstützung, psychologische Hilfe oder soziale Intervention. Wenn dies nicht ausreicht, kann eine komplexere Behandlung angedacht werden, wie intensivere Psychotherapie und in manchen Fällen Medikamente. Das sollte stufenweise mit steigender Intensität und Spezifizierung erfolgen, je nach Bedarf. So kann man situationsangemessen reagieren und aktiv eine Über-Behandlung vermeiden. Das weltweite Risiko in diesem Augenblick ist die Unter-Behandlung. Die Mehrheit der jungen Menschen bekommt überhaupt keine Hilfe. Keiner kämpft für sie oder arbeitet mit ihnen, außer der üblichen Ausnahme: ihre besorgten Eltern.“

 
Frühintervention
Professor McGorry spricht sich erfolgreich für Früherkennung, Prävention und Behandlung von Psychosen aus. Er begann mit seiner Arbeit am EPPIC-Model (Early Psychosis and Intervention Centre) in den 80er Jahren. „Wir haben recht früh versucht, den diagnostischen Fokus auf affektive Störungen und andere Bereiche auszuweiten“, sagt McGorry. „Dafür brauchten wir viel Zeit. 2001 konnten wir Orygen öffnen, das australische Zentrum für Forschung, klinische Dienstleistungen und Fürsprache in der Jugendpsychiatrie. Wir waren der Ansicht, dass unsere Überlegungen zur Frühintervention bei Psychosen für alle Arten von Syndromen und Störungen geeignet waren, die sich sowieso häufig überschnitten. Wir hatten immer noch spezifische Strukturen für die Behandlung einer Psychose, aber wir ließen die Vorstellung los, separate Dienstleistungen für jede Störung zu haben – ganz im Ernst, das sind einfach junge Leute, die Probleme haben und Hilfe brauchen - je nach ihren Bedürfnissen - und sie haben spezifischere klinische Syndrome. Die komplizierten Komorbiditäten, die auftreten, unterstützten diese Sichtweise, auch wenn eine Psychose in jener Zeit immer noch als etwas vollständig anderes bewertet wurde als gängigere Störungen wie Depressionen, Angstzustände oder andere Störungen. Und wir wissen immer noch nicht so ganz genau, wie wir mit diesen Komorbiditätsproblemen umgehen sollen. Spezialisierte Anbieter in der nördlichen Hemisphäre haben heute noch ein spezielles Programm für Schizophrenie, ein Programm für Depressionen und ein Programm für bipolare Störungen. Heute haben wir eine ganze Menge weniger davon. In unserer speziellen Gesundheitsfürsorge für die psychische Gesundheit von Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren haben wir Fürsorge-Richtungen, aber es gibt eine Menge Gemeinsamkeiten bei den Leistungen, die geboten werden. Wir haben eine Reihe von spezifischen Elementen in jeder sogenannten „diagnostischen Zone“ oder „Richtung“, aber wir achten darauf, dass wir die Komorbidität in jeder Richtung aufgreifen. Wenn also ein Borderline-Patient auch eine Depression oder psychotische Symptome hat, behandeln wir das ebenfalls. Oder wenn ein psychotischer Patient eine Persönlichkeitsstörung hat oder depressiv ist, sorgen wir selbstverständlich dafür, dass auch das behandelt wird. Wir nehmen nicht einfach an, dass es Teil des dominanten Syndroms ist, und ignorieren es. Was wir behandeln, sind nicht wirklich Krankheiten oder Störungen – es sind Syndrome. Sie kommen und gehen, und sie schwanken. Darum ist das schrittweise Modell so wichtig. Schizophrenie und bipolare Störungen können am besten als Spektrumstörungen und Konzepte für spätere Phasen gesehen werden: Es kann zehn Jahre dauern, ehe die Diagnose einer bipolare Störung gestellt wird und vielleicht fünf oder zehn bei Schizophrenie. Aber die Notwendigkeit einer Behandlung ist natürlich viel früher gegeben.“

Konkurrenz um Fördermittel
Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts waren Patrick McGorrys Ansichten zur Frühdiagnose kontrovers und wurden heftig kritisiert – sie galten als „irreführend“ und seine Forschungsergebnisse wurden als „Übertreibung“ abgetan. McGorry: „Eine lautstarke Minderheit akademischer Psychiater in einigen englischsprachigen Ländern widersetzte sich der Frühintervention bei Psychosen, weil sie völlig zu Unrecht Angst hatten, dass die chronischen Patienten mit langfristigen Beeinträchtigungen irgendwie zu kurz kämen, wenn wir uns auf die Frühdiagnose konzentrieren würden. Derartige Befürchtungen gäbe es niemals bei Krebserkrankungen, nie würde man die Verantwortlichen im Gesundheitswesen sagen hören: „Es tut mir leid, aber sie können kein Geld für die Früherkennung von Brustkrebs bekommen, weil wir finden, dass die spätere Phase dieser Krankheit erst besser behandelt werden muss...“ Aber das ist genau das, was einige unserer Kollegen im Grunde sagen, und ich kann sie sogar bis zu einem gewissen Grad verstehen, weil es einfach nicht genug Geld im psychischen Gesundheitswesen gibt und Konkurrenz zwischen den verschiedenen Förderbereichen herrscht. Wenn Menschen sehen, dass neues Geld in einem Bereich investiert wird, denken sie: „Warum können wir das Geld nicht kriegen?“ Natürlich denken sie das. Diejenigen, die niemals die Frühintervention kritisiert haben, waren die Familien, die Öffentlichkeit und die Politiker. Sie erkannten die Logik und die Wirtschaftlichkeit des Ansatzes. Und die Parallelen zur physischen Erkrankung.“

Beweise
„Natürlich können wir Menschen nicht immer heilen, aber wir können ganz bestimmt den Verlauf der Erkrankung ändern, wenn sie früh und gleichbleibend gut behandelt wird. Als wir damit anfingen, haben wir gleichzeitig begonnen, den umfassenden internationalen Beweis dafür zu produzieren, dass es hilft. Die RAISE Studie aus den USA, die replizierte, was in Europa und Australien in den Neunzigern gemacht wurde, brachte es jetzt wirklich auf den Punkt. Dank einer sehr guten Methodik zeigen die RAISE-Resultate, dass man den früheren Verlauf von Krankheiten beeinflussen kann, wenn man sie sehr früh richtig behandelt, vor allem wenn die Behandlungsverzögerung auf ein Minimum begrenzt wird. Und es lohnt sich: Durch das Angebot einer früheren Behandlung kann das Leben einer Person geschützt werden, ihre Entwicklung, ihre soziale Umgebung und ihre Aussichten können gewahrt bleiben. Wenn man fünf oder zehn Jahre wartet, sind diese Menschen Ende 20, Anfang 30, und eine kritische Phase des Lebens ist an ihnen vorüber gegangen.“

„Sie zahlen Steuern“"Resultate nach Frühbehandlung sind besser."

„Als Resultat können wir erwarten, dass die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass unsere Patienten eine Ausbildung machen und berufstätig sind, dass sie weniger Rückfälle bekommen und es weniger Geld kostet, sie langfristig zu behandeln, weil sie sich besser erholen, dass sie Steuern zahlen und nicht von der Sozialhilfe leben. Es ist immer noch keine Heilung an sich, aber wir beeinflussen das Resultat. Und über das Prodromalstadium des ersten Auftretens einer Psychose – die Menschen mit ultrahohem Risiko – wissen wir, dass, unbehandelt, diese Gruppe normalerweise schlechte Ergebnisse in vielerlei Hinsicht aufweist, nicht nur im Hinblick auf den Übergang zur Psychose. Sie leiden auch unter anhaltenden affektiven Störungen und Angstzuständen sowie anderen Problemen. Auch für diese Patienten haben wir bewiesen, dass die Resultate nach Frühbehandlung ebenfalls besser sind – zumindest innerhalb der ersten beiden Jahre. Auch können wir das Risiko des Übergangs zur Psychose um 50% vermindern.“

Headspace
„Die Notwendigkeit der Versorgung in irgendeiner Form geht der diagnostischen Klarheit im Sinne unserer traditionellen DSM- oder ICD-Systeme voraus. Sie brauchen einfach irgendeine Hilfe, und es gibt viele dieser jungen Menschen. Wir müssen diese Versorgung bieten. Ausschlaggebend für die Lösung des Problems junger Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen, die keine Anlaufstelle haben, ist es, ein starkes Grundversorgungssystem zu entwickeln, das zu jungen Menschen passt. In AustralienKanada und Dänemark ist dies mit Headspace geschehen und in Irland mit Jigsaw und Headstrong.“
Der Schwerpunkt der psychiatrischen Standardversorgung muss sich von der ausschließlichen chronischen Versorgung auf die Eingliederung dieser Art der spezialisierten Frühinterventionsleistungen verschieben, glaubt McGorry. Das australische Headspace-Konzept umfasst sehr zugängliche, lokale Angebote - „soft-entry“ oder „niederschwellig“, wie manche Europäer sagen. Fast wie Jugend-Cafés, in denen junge Menschen mit jemandem über die Probleme, die sie haben, reden „oder einfach nur einen Kaffee trinken können“ - allerdings mit echter multidisziplinärer Expertise vor Ort. Verschiedene Gesundheits- und Sozialdienste sind in diesen Zentren vertreten, die mit Schulen, Arbeitsvermittlungen, Sozialämtern und Jugendarbeitsorganisationen zusammenarbeiten Das Headspace-Konzept soll das Ungleichgewicht zwischen dem Bedürfnis nach psychischer Gesundheit und dem Mangel an Zugang dazu aufheben. „Wir entwickeln diese Aufnahmestelle, die das schreckliche Wort „Triage“ vermeidet, das mich immer an ein militärisches System zu Kriegszeiten erinnert: Wer ist es wert, gerettet zu werden, und wer nicht... Das sollte im medizinischen und Gesundheitsbereich nicht wünschenswert sein; man sollte auf die wahren Bedürfnisse der Menschen reagieren wollen... Stattdessen bieten wir also einen Ort an, zu dem jeder junge Mensch und seine Familie kommen und zumindest eine Einschätzung und Unterstützung bekommen kann. Schandmalfrei und effektiv.“

Transition to adulthood and access to effective mental health care

 

Access to youth mental health care and quality of adolescent mental health care

Patrick Dennistoun McGorry biografie

Professor Patrick Dennistoun McGorry (geboren in Dublin, 1952) ist der Geschäftsführer von Orygen, Professor für die psychische Gesundheit von Jugendlichen in Melbourne und Mitglied des Vorstandes der australischen Stiftung für die psychische Gesundheit von Jugendlichen (Headspace). Er ist ein weltweit führender Forscher im Bereich der Psychose im Kindes- und Jugendalter und der psychischen Gesundheit von Jugendlichen und setzt sich für die psychische Gesundheit von Obdachlosen, Flüchtlingen und Asylsuchenden ein.
Seine Arbeit hat eine entscheidende Rolle in der Entwicklung von sicheren, effektiven Behandlungen und innovativer Forschung zu den Bedürfnisse junger Menschen mit beginnenden psychischen Störungen gespielt, insbesondere bei psychotischen und schweren affektiven Störungen. Er hat außerdem eine wichtige Rolle bei der transformationellen Reform der psychiatrischen Versorgung gespielt, um den Bedürfnissen verletzlicher junger Menschen besser gerecht zu werden.

Publikationen

Auswahl von Publikationen

Convergence Science Arrives: How Does It Relate to Psychiatry?
Eyre HA, Lavretsky H, Forbes M, Raji C, Small G, McGorry P, Baune BT, Reynolds C 3rd.

Altering the course of schizophrenia: progress and perspectives.
Millan MJ, Andrieux A, Bartzokis G, Cadenhead K, Dazzan P, Fusar-Poli P, Gallinat J, Giedd J, Grayson DR, Heinrichs M, Kahn R, Krebs MO, Leboyer M, Lewis D, Marin O, Marin P, Meyer-Lindenberg A, McGorry P, McGuire P, Owen MJ, Patterson P, Sawa A, Spedding M, Uhlhaas P, Vaccarino F, Wahlestedt C, Weinberger D.

The effectiveness of simple psychological and physical activity interventions for high prevalence mental health problems in young people: A factorial randomised controlled trial.
Parker AG, Hetrick SE, Jorm AF, Mackinnon AJ, McGorry PD, Yung AR, Scanlan F, Stephens J, Baird S, Moller B, Purcell R.

Niacin Skin Sensitivity Is Increased in Adolescents at Ultra-High Risk for Psychosis.
Berger GE, Smesny S, Schäfer MR, Milleit B, Langbein K, Hipler UC, Milleit C, Klier CM, Schlögelhofer M, Holub M, Holzer I, Berk M, McGorry PD, Sauer H, Amminger GP.

Why We Need a Transdiagnostic Staging Approach to Emerging Psychopathology, Early Diagnosis, and Treatment.
McGorry P, Nelson B.

Heterogeneity of Psychosis Risk Within Individuals at Clinical High Risk: A Meta-analytical Stratification.
Fusar-Poli P, Cappucciati M, Borgwardt S, Woods SW, Addington J, Nelson B, Nieman DH, Stahl DR, Rutigliano G, Riecher-Rössler A, Simon AE, Mizuno M, Lee TY, Kwon JS, Lam MM, Perez J, Keri S, Amminger P, Metzler S, Kawohl W, Rössler W, Lee J, Labad J, Ziermans T, An SK, Liu CC, Woodberry KA, Braham A, Corcoran C, McGorry P, Yung AR, McGuire PK.