Johannes Hebebrand - Wenn man die Implikationen nicht gründlich abwägt, kann Screening eher schaden
Früherkennung scheint das aktuelle Zauberwort sowohl für somatische als auch psychische Störungen zu sein. Auf den ersten Blick haben wir hierführ auch die erforderlichen Werkzeuge. Schnelle Fortschritte bei molekulargenetischen Techniken erlauben die pränatale Erkennung monogener und chromosomaler Störungen. Hocheffiziente Screenings von Neugeborenen werden in vielen Ländern weltweit durchgeführt.
Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychologen, Kinderärzten, Haus- und Schulärzten stehen eine Reihe gängiger Fragebögen für das Screening auf psychische Symptome zur Verfügung. Aber ist es sinnvoll, diese Instrumente für das universelle Screening zu verwenden? Was sind die zugrundeliegenden Ziele? Können wir für Einzelpersonen nach einem positiven Screeningergebnis weitergehende Diagnostik und entsprechende Behandlungen bereitstellen? Ist die Gesellschaft bereit und gewillt, universelles Screeningprogramme für psychische Störungen gezielt einzusetzen?Verwirrung
In diesem Plenarvortrag auf dem ESCAP 2017 Kongress gab Professor Johannes Hebebrand von der Universität Duisburg-Essen einen Überblick über das aktuelle prä- und postnatale Screening von Kindern und Jugendlichen im Alter bis zum Alter von 18 Jahren. "Die erste Frage, die sich Ärzte stellen müssen, ist, was sie eigentlich mit einem spezifischen Screening erreichen möchten", sagt Hebebrand. "Das Wort Screening an sich führt schon zu Verwirrung. Es wird in unterschiedlichen Zusammenhängen und für verschiedene Zwecke in einer Vielzahl von Trajektorien verwendet. Ich glaube, dass man in der Kinder- und Jugendpsychiatrie fokussierter ansetzen sollte. Sowohl Forscher als auch Klinikärzte sollten bei der Verwendung dieses Worts Vorsicht walten lassen. Während das Screening von Hochrisikopopulationen bzw. -personen in vielen Situationen angebracht erscheint, ist es für ein populationsbasiertes, universelles Screening erforderlich, die Evidenzgrundlage und die gesellschaftlichen Folgen gründlich auszuwerten. Je diffuser und unspezifischer der Begriff Screening in den Köpfen der Ärzte existiert, desto größer ist das Risiko, dass wir mit Screening nichts erreichen, oder dass es sogar schadet."
Die Folgen abwägen
"Wir müssen tatsächlich zu einem Konsens zwischen Experten und anderen Beteiligten einschließlich Nichtmedizinern gelangen, um alle medizinischen und sozialen Folgen vor der Implementierung universeller Screenings für psychische Störungen abzuwägen. Diese Folgen sind viel komplexer als die meisten Menschen denken: Welcher Zweck liegt dem Screening zugrunde? Sind wir uns ganz über die potenziellen Nebenwirkungen im Klaren? Sind Behandlungsmöglichkeiten vorhanden? Sind diagnostische und therapeutische Ressourcen vorhanden, um positiv gescreenten Kindern und deren Familien weiter zu helfen? Und was sind die Folgen für die Gesellschaft?"
"Ein augenscheinlich negatives Beispiel stellt die Etablierung eines Screenings dar, ohne dass man bei positivem Befund eine zeitnahe Diagnostik und Behandlung anbieten kann. In einem solchen Fall kann das Screening der seelischen Gesundheit des Kindes beziehungsweise dem Wohlbefinden der Familie eher schaden."
US Preventive Services Task Force
Hebebrand vertritt die Meinung, dass in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Europa eine allgemeine Standardisierung des Einsatzes von Screenings auf psychische Störungen vonnöten ist. Er verweist auf die Website der United States Preventive Services Task Force (USPSTF), die ein Vorbild für die Erweiterung der Evidenzgrundlage für medizinisches Screening und für eine verantwortungsvolle Implementierung der verfügbaren Instrumente darstellt. Hebebrand: "Ähnlich wie die europäischen diagnostischen und therapeutischen Leitlinien brauchen wir eine europäische Norm für die Anwendung oder Nichtanwendungmedizinischer Screenings für Autismus, Depression, ADHS, Suchterkrankungen und so weiter. Hierbei müsste das Vorgehen geklärt werden um festzuhalten, ob die Basis für die Etablierung eines spezifischen Screeningansatzes überhaupt gegeben ist. Diese Screeingleitlinie könnte von einem Team entwickelt und fortan betreut werden, das aus Experten aus Medizin, Ethik und Recht sowie politischen Entscheidungsträgern besteht. Im Idealfall sollte das Screening somatischer und psychischer Störungen unter einem gemeinsamen Dach angegangen werden, damit ein übergreifender, multidisziplinärer Ansatz gewährleistet ist."
Anlaufstelle
Hebebrand zufolge sollte diese europäische Plattform für prä- und postnatales Screening nach Fachgebieten und Störungen subkategorisiert werden und als zukünftige Anlaufstelle für Mediziner und Forscher mit unterschiedlichem Hintergrund dienen. "Das ist wichtig, vor allem für unsere Kollegen in den Praxen und Kliniken, die häufig mit Fragen über Screening konfrontiert werden", so Hebebrand, dessen Plenarvortrag auf dem ESCAP 2017 Kongress auch dazu dienen soll, Experten relevanter Fachgebiete dazu zu bewegen, das Fundament für diese europäische Plattform zu legen. "Zu diesem Zweck brauchen wir Experten und die nötigen Fördermittel", erläutert Hebebrand. "Wir müssen beträchtliche Anstrengungen unternehmen. Eine wichtige Aufgabe wartet auf uns, wobei zunächst die theoretischen Grundlagen zu erarbeiten sind. Im Anschluss gilt es auf nationaler und europäischer Ebene entsprechende Empfehlungen zu erstellen, wobei es die bestehenden nationalen Unterschiede der Gesundheitssysteme in Europa mit zu bedenken gilt."