Professor Fegert: „Wir müssen mehr kulturelle Kompetenz entwickeln.“
„In den meisten europäischen Ländern haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dieselben Rechte wie Einwohner. Aber eines Tages werden sie volljährig und sind sie plötzlich „nur noch Flüchtlinge“, die einfach wieder in das Kriegsgebiet, aus dem sie geflohen sind, zurückgeschickt werden können.
Professor Jörg M. Fegert beschreibt die tragischen Umstände, denen jugendliche Flüchtlinge an ihrem bevorstehenden 18. Geburtstag möglicherweise ausgesetzt sind. „Versuchen Sie sich vorzustellen, welchen Einfluss das auf Ihre Motivation hat, wenn Sie als Kind alles richtig machen - in der Schule oder in der Lehre - und plötzlich der Tag kommt, an dem alle Ihre Zukunftsperspektiven ein jähes Ende finden. Auch wenn Ihr Chef den öffentlichen Behörden mitteilt, dass er Sie in seinem Schulungsprogramm behalten möchte. Ich übertreibe nicht. Wir haben schreckliche, derartige Fälle gesehen und oft sehen wir diese jungen Leute total verzweifelt oder noch schlimmer, bis hin zur Suizidalität.“
Soforthilfe
Konfrontiert mit der großen Anzahl jugendlicher Flüchtlinge in Deutschland, worunter viele unbegleitete Minderjährige, war Fegerts Stellungnahme klar und deutlich: „Diese Jugendlichen haben große Probleme und viele brauchen sofort Hilfe. Viele von ihnen sind starke, junge Männer, die bereits einige Krisen durchgestanden haben; die meisten von ihnen können das - mithilfe von Psychoedukation und einem sicheren Ort zum Erholen - durchstehen, obwohl sie oft sehr ruhelos sind, ernste Schlafstörungen haben und Probleme mit Alkohol und Drogenmissbrauch entwickeln. Eine kleinere Gruppe hat schwere psychische Probleme. Neun bis 44 Prozent sind depressiv und einige von ihnen sind selbstmordgefährdet. Durch die große Anzahl der Flüchtlinge kommt es in den meisten deutschen psychiatrischen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche jede Woche zu einigen Ernstfällen. Darüber hinaus gibt es die jungen Frauen, die durch häusliche Gewalt und/oder sexuellen Missbrauch während ihrer Flucht schwer traumatisiert sind. Begleitete Kinder reagieren, dank ihrer Familienstrukturen und manchmal mithilfe ihrer Religionsgemeinschaft, verhältnismäßig gut auf unsere psychosoziale Unterstützung. Aber in den meisten Fällen gibt es großes Misstrauen, zum Beispiel zwischen verschiedenen Stammesteilen. Wir haben in keiner Weise mit einer homogenen Gruppe zu tun. Manchmal vertrauen sie uns mehr als den Leuten, die ihre Muttersprache sprechen oder aus ihrem eigenen Land kommen. Das ist eine sehr heikle Angelegenheit.“
„Ich denke, wir sollten viel mehr sprachlich und kulturell kompetente Leute anstellen, um uns über die besten Möglichkeiten zu informieren, diese Flüchtlingsfamilien und ihre Hintergründe zu verstehen. Wir müssen mehr kulturelle Kompetenz entwickeln. Wir müssen diesen Kindern und Jugendlichen auch unsere Arbeitsweise erklären, denn in vielen Ländern, aus denen sie kommen, ist Psychiatrie etwas, wovor Menschen zurückschrecken. Wir haben in Europa auch Probleme mit diesem Stigma, aber in einigen dieser Kulturen ist das noch viel schlimmer. Wir müssen ihnen sehr überzeugend erklären können, was wir tun.“
Paternalistische Sichtweise
„Wir versuchen, von unseren Fehlern in der Vergangenheit zu lernen. Von Studien zu sexuellem Missbrauch und Kindesmisshandlung in Einrichtungen der Fünfziger- und Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts können wir lernen, dass wir bessere Beschwerdesysteme brauchen und dass wir uns von einer mehr oder weniger paternalistischen Sichtweise lösen müssen. Wir müssen von der Vorstellung „Wir wissen, was für dich das Beste ist“ wegkommen und den Kindern bessern zuhören. In vielen unserer quantitativen und qualitativen Studien haben wir Kinder interviewt, um zu hören, wie es in den Einrichtungen wirklich zugeht. Wir lernen von ihren Erfahrungen, ihren Empfindungen - etwa indem wir erkennen, wie wichtig es für Kinder sein kann, dass ihre gesetzlichen Ansprüche berücksichtigt werden. Die Wände unserer Klinik schmücken Zitate der UN-Kinderrechtskonvention in vielen verschiedenen Sprachen. Das fällt den Kindern auf, sie sprechen das an und wir diskutieren darüber. Zuerst sind sie überrascht, diese offiziellen Textstellen in ihrer eigenen Sprache zu lesen. „Haben wir wirklich das Recht das zu tun oder nicht?“, fragen sie mich. Ich genieße diese Gespräche mit den Kindern. Sie öffnen sich und ich lerne davon. Zum Beispiel fühlt sich für sie eine Behandlung oft wie eine Strafe an, etwa wie: Jetzt habe ich so viele dumme Sachen gesagt und getan, dass ich als Strafe in die Kinderpsychiatrie komme... Sie können sich vorstellen, wie wichtig es ist, derartige Denkweisen zu erkennen und darauf einspielen zu können.“Laufende Forschung
Die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen veranschaulichen das Ausmaß dieser Krise, während die ersten Ergebnisse des Ulmer Instituts von Dr. Fegert voraussichtlich auf den Kongressen der DGKJP, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (Ulm, März 2017) und der ESCAP (Genf, Juli 2017) präsentiert werden. Jörg Fegert wird auf dem Genfer Kongress ESCAP 2017 ein Grundsatzreferat zu diesem Thema halten.
„Was Kindesmisshandlung und Traumatisierung betrifft, haben wir viele Kinder, die zu ihrem Schutz in Einrichtungen aufgenommen wurden“, sagt Dr. Fegert. „Die deutsche Regierung gibt für diese Kinder gibt für diese Kinder Milliarden aus, aber es gibt keine ausreichenden Studien dazu. Wir hatten die Möglichkeit, eine Schweizer Studie unseres Kollegen Klaus Schmeck in Basel auszuwerten, woraus wir schließen konnten, dass 60 bis 70 Prozent der Kinder, die derzeit in einer Einrichtung leben, eine traumatische Vergangenheit haben. Und 60 Prozent oder mehr haben eine ICD-10-Diagnose. Es gibt also eine große Gemeinsamkeit mit der Kinderpsychiatrie.“
„Um einen Überblick zu schaffen, werden Verbreitungsaktivitäten unternommen. Was genau müssen wir über Traumatisierung wissen, wenn wir mit diesen Kindern arbeiten? Was müssen wir zur Unterstützung von NGOs wie UNICEF organisieren? Wir werden auch mehrere Bewertungen der Effektivität verschiedener E-Learning-Programme durchführen. Diese Studien werden wir hoffentlich in naher Zukunft präsentieren können.
Sichere Einrichtungen
„Wir haben vor Kurzem eine Studie zu körperlichem und sexuellem Missbrauch in Einrichtungen abgeschlossen. Wir haben entdeckt, dass das Hauptproblem nicht die Erzieher, sondern die Gleichaltrigen sind. Die jungen Männer legen oft sexuelles Verhalten an den Tag und missbrauchen Gleichaltrige in den Einrichtungen. Wenn wir also über den Schutz des Kindes sprechen, ist die Lösung des Problems die Unterbringung in sicheren Einrichtungen und ein früheres Eingreifen. Eine randomisierte Studie hat auch gezeigt, dass wir vermeiden sollten, sie in unsere Abteilungen zu holen - es hat sich herausgestellt, dass wir sie besser in den Einrichtungen unterstützen können, in der Umgebung, in der sie ihr tägliches Leben leben. Diese randomisierte kontrollierte Studie hat gezeigt, dass durch das Anbieten von Therapie in der eigenen Umgebung die Anzahl der Klinikaufenthalte auf die Hälfte reduziert werden konnte. So konnten wir in derselben Zeit und für dasselbe Geld zehn Mal so viele Kinder sehen.“
„Davor, als die Kinder in unsere Abteilung kamen, waren die Eltern nicht dabei, und kein Erzieher, der etwas über die Vergangenheit des Kindes wusste - es wurde einfach willkürlich jemand ausgewählt, der zum Doktor geschickt wurde. Als Kinderpsychiater können wir nicht arbeiten, ohne etwas über den Hintergrund des Kindes zu wissen. Wir brauchen Informationen von den Bezugspersonen, die mit dem Kind zusammenleben. Aber sie konnten es sich nicht leisten, zu unseren Kliniken zu kommen. Diese Situation änderte sich vollständig, als wir anfingen, die Kinder direkt in den Einrichtungen zu behandeln. Ein wichtiges Ergebnis unsere Studie war, dass Kinderpsychiater ihr Büro verlassen und den Ort des Problems aufsuchen müssen.“
„Dazugehören“
Als Berater der deutschen Regierung setzt sich Jörg Fegert mit einem breiteren Konzept der Einbeziehung auseinander, das unweigerlich Auswirkungen auf das gesamte Fürsorgewesen, nicht nur in Deutschland und nicht nur in der psychischen Gesundheitsfürsorge haben wird. Fegert: „Das Konzept der Einbeziehung bedeutet, dass wir jeden unterbringen müssen und niemanden zurückweisen dürfen. Folglich muss sich die Gesellschaft als Ganzes ändern. Es sollte nicht die Aufgabe eines einzelnen Kindes aus einem Kriegsgebiet sein, in einer neuen Umgebung leben zu lernen - es ist die Gesellschaft, die diesem Kind helfen muss, ein gesundes und glückliches Mitglied der Gesellschaft zu werden.“
„Dieses Konzept gilt für jeden und für alles. Also auch für Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen. Die Frage ist, ob wir uns auf die Diagnose oder auf die Hindernisse und Möglichkeiten jedes einzelnen Kindes konzentrieren, und außerdem müssen wir untersuchen, was wir tun können, um die Teilnahme dieses speziellen Kindes an der Gesellschaft zu verbessern. Das ist auch der Ursprung des Mottos unserer Gesellschaft DGKJP im März 2017: Dazugehören. Teil der Gesellschaft sein.“
Jörg Michael Fegert (1956), studierte Medizin und Soziologie an den Universitäten in Nantes und Berlin. Anschließend absolvierte er seine Facharztausbildung an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Freien Universität Berlin. Im Jahr 1987 promovierte er zum Thema Migration und psychosoziale Anpassung und im Jahr 1991 wurde er Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 1996 erhielt er die Professur für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Magdeburg und derzeit ist er ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums in Ulm. Er ist ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), stellvertretender Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen am BMFSFJ, Sprecher des Kompetenzzentrums Kinderschutz in der Medizin Baden Württemberg (Com.Can) und Co-Sprecher für Psychotrauma des transdisziplinären Zentrums für Traumaforschung TFZ der Universität Ulm.
Auswahl neuester Veröffentlichungen:
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Psychosocial Risk Factors for Child Welfare among Postpartum Mothers with a History of Childhood Maltreatment and Neglect.
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Professional caregiver's knowledge of self-reported delinquency in an adolescent sample in Swiss youth welfare and juvenile justice institutions.
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[Nonnative guidelines for allocating human resources in child and adolescent psychiatry using average values under convergence conditions instead of price determination - analysis of the data of university hospitals in Germany concerning the costs of calculating day and minute values according to Psych-PV and PEPP-System].
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